Interview mit Uller Gscheidel: „Zur Begleitung krisenhafter Prozesse gehört Coaching oder Supervision.“
Die Bestattungsbranche spricht von einem Wandel der Bestattungskultur, die sogenannten alternativen Bestattungsinstitute sprießen aus dem Boden und ein Hauch von Digitalisierung liegt in der Luft. Alles neu? Oder schon mal da gewesen?
Wir haben mit Uller Gscheidel von Charon Bestattungen in Berlin über den Diskurs um alternative Bestattungen, die Ausbildung zum Bestatter, Persönlichkeitsentwicklung und hilfreiche Software gesprochen. Der praktizierende Buddhist hat 2002 seine Berufung als Quereinsteiger in die Bestattungsbranche gefunden. Mittlerweile leitet der sympathische Bestatter das Bestattungsinstitut in Berlin gemeinsam mit seiner Tochter Lea. Warum das gut funktioniert und was er von der neuen Generationen lernen kann, erfahrt ihr weiter unten.
Herr Gscheidel, Sie haben bereits 2002 damit begonnen, alte Rituale und Abläufe
durch begleitende und offenere Beratung zu ersetzen.
Von diesem Wandel höre ich, seit ich vor 15 Jahren angefangen habe. Wandel findet immer und überall statt – natürlich auch in der Bestattungsbranche. Doch es gibt einige Faktoren, die eine Veränderung vorangetrieben haben. Zum Einen aus der Branche heraus, aber auch aus anderen Richtungen.
Ein entscheidender Faktor war sicherlich der Wegfall des Sterbegeldes der Krankenkassen 2003. Damit endeten die sorglosen Zeiten der traditionellen Bestattungsunternehmen. Somit sind schnell neue Strukturen entstanden, die den Wettbewerb über den Preis begünstigten.
Diese neuen Strukturen bedienten durchaus erfolgreich ein Klientel, die für eine Bestattung wenig oder kein Geld ausgeben konnten oder wollten. Das bedeutete jedoch für die Traditionsunternehmen zum ersten Mal wirklich Konkurrenzdruck und die Notwendigkeit sich mit diesem Wandel und den Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Bestattungsgeschäfts neu auseinander zu setzen.
Vor 10 oder 20 Jahren waren die „alternativen“ Bestattungsunternehmen die Feinde der Traditionsunternehmen.
Denn sie zeichneten sich ja auch dadurch aus, dass sie Bestattung so machten, wie es „schon immer war“, „wie es sich gehört“ und wie es auch heute noch stimmig ist für viele der sehr alt gewordenen Menschen. Heute sind die meisten der damals „alternativen“ Unternehmen gut im Geschäft mit ihren Ansätzen und finden ausreichend Kunden, die genau das wünschen.
Und woher kam der Input für dieses neue Auseinandersetzen mit den Möglichkeiten des Bestattungsberufes?
Auf der einen Seite brachte die Hospizbewegung viel Bewegung in die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben. Mit ihrem Anspruch, dass ein Leben bis zuletzt würdevoll möglich sein sollte und nicht in den Besenkammern der Heime verschwinden sollte.
Neue Einflüsse kamen aber auch von den Quereinsteiger, die in diesem Zuge in die Branche kamen. Es tauchten vereinzelt „alternative“ Unternehmen am Markt auf, gegründet von Menschen, die eine andere Vorstellung vom Sterben, Tod und Bestattung hatten, die intrinsisch motiviert waren, in diesem gesellschaftlichen Umfeld etwas zu verändern.
Sie waren oft studierte Quereinsteiger in diesen Beruf und brachten andere Sichtweisen und Voraussetzungen mit, die über Bestattung als Handwerksberuf hinaus reichten.
Was für neue Sichtweisen waren das genau?
Es ging darum, den Verstorbenen nicht mehr nur als zu entsorgenden Grund des Auftrags zu begreifen, ihn „pietätvoll“ verschwinden zu lassen, sondern den Angehörigen Zugang zu ihrem Verstorbenen zu ermöglichen, sie zu ermutigen, letzte Dienste selbst zu tun, und sich dadurch selbst der direkten Erfahrung von Sterblichkeit auszusetzen.
Die Begegnung mit einem Toten, der einem nahe war, ist immer eine Begegnung mit den eigenen Gefühlen von Verlust und Trauer und der Erfahrung, dass wir mit dem Tod leben (müssen).
Die Verstorbenen vor Übergriffigkeit zu schützen und Angehörige bei diesen meist ungewohnten Schritten zu unterstützen, wurde nunmehr als wichtig erachtet.
Insofern war dieses „alternativ“ nichts Neues, sondern eher etwas Altes, viele Jahrhunderte von den Familien und Dorfgemeinschaften selbstverständlich getan, das wir in den westlichen Gesellschaften nach den Kriegen in die Hände der Profis (Senioreneinrichtungen und Bestattungsunternehmen) gegeben hatten und damit auch einen wesentlichen Zugang zum Verständnis der Welt im ewigen Wandel aus der Hand gegeben hatten.
Was ist heute anders? Hat es mit dem stärker gewordenen Streben nach Individualität (auch über den Tod hinaus) zu tun?
In vielen Traditionsunternehmen hat mittlerweile ein Generationswechsel stattgefunden, der Raum für neue Ideen eröffnete. Außerdem gibt es viel mehr Bestatterinnen und Bestattungsunternehmen, die von Frauen geführt werden – in einer bisher eher von Männern geprägten Branche. Es zeigt sich, dass die „alternativen“ Ideen heute sehr viel mehr gesellschaftliche Akzeptanz erfahren. Es geht um Individualität, auch im Sterben und beim Begraben werden.
Auch wenn Tod und Sterben noch immer tabuisiert ist, wird dem Thema sehr viel mehr Platz eingeräumt.
Und es kommt allmählich auch in einer Generation an, die sich schon in ihrer Jugend engagiert hat gegen Fremdbestimmung durch eine Obrigkeit, die als einengend und nicht freiheitsorientiert erlebt wurde (von damals „mein Bauch gehört mir“, der selbstbestimmten Geburt, antiautoritärer Erziehung, Kinderläden, freie Schulen, Befreiung der Sexualität kommt eben heute, altersbedingt, auch das selbstbestimmte Sterben und Beerdigen).
Aus selbstverwalteten „Food Koops“ und Bioläden, die damals biologisch erzeugte Nahrungsmittel verkauften, die es sonst ja fast nicht am Markt gab, sind heute Biosupermärkte geworden. Man geht sogar auch bei Aldi „Bio“ einkaufen.
So verändert sich auch der Markt in der Bestattungsbranche. Die, die heute noch die „Alternativen“ sind, werden (wenn sie erfolgreich sind) die Ideengeber und Versuchskaninchen sein, deren Ideen dann von andern aufgegriffen werden. Dass es dabei auch zu einer Verwässerung der Ansprüche kommt, gehört leider auch zu diesem Prozess der Verbreitung der Ideen.
Was bedeutet der neue Diskurs für die Ausbildung zur BestatterIn? Sind die Berufsschulen gewappnet für einen tiefergreifenden Wandel?
Der Beruf Bestatter ist einer der wenigen noch zulassungsfreien Berufe in Deutschland. Das bedeutet Jeder und Jede kann, auch ohne jegliche Ausbildung, ein Gewerbe als Bestattungsunternehmen anmelden.
Das Bestreben der Branche, hier zu Qualifizierung einen Beitrag zu leisten und Ausbildungen und Abschlüsse anzubieten, ist sicher wertvoll, soll aber letztendlich auch den Marktzugang im Sinne der Branche regeln.
Vielleicht sollte man vorab klären, ob es Sinn macht, dass der Beruf weiterhin als Handwerk geführt wird, was ja nur historisch zu erklären ist – die Wurzeln der Branche liegen beim Tischlerhandwerk und beim Transportgewerbe. Die Anforderungen an den Beruf heute sind aus meiner Sicht andere und zudem regional sehr verschieden – in Berlin brauchen wir z. B. kein Wissen über das Erstellen einer Gruft, da dies die Friedhöfe in eigener Verantwortung machen.
Wenn ich mir die Lehrpläne der Ausbildungen ansehe, sind diese vielleicht geeignet für junge Menschen als grundlegende Berufsausbildung mit viel Betriebswirtschaft und Materialkunde – eben angelehnt an die Ausbildungen in anderen Gewerken. Ob sie allerdings geeignet sind, die menschliche Kompetenz zu vermitteln, um mit all den schwierigen menschlichen Situationen umzugehen in die Bestatter einfach gestellt sind, wage ich zu bezweifeln.
Zur Begleitung krisenhafter Prozesse gehört Coaching oder Supervision.
Kann man das denn überhaupt lernen oder sind diese Fähigkeiten nicht vielmehr durch die Sozialisation und andere Faktoren „veranlagt“?
Ich habe grundsätzliche Zweifel, ob die nötigen Qualitäten von Einfühlungsvermögen, Authentizität und der Umgang mit den eigenen Gefühlen überhaupt in einem schulischen Kontext vermittelt werden kann.
Das ist Herzensbildung und Entwicklung von Persönlichkeit, Soft Skills, die man nicht aus Büchern und mit Konzepten lernen kann, sondern die mit den Erfahrungen mit sich selbst im Leben wachsen können.
Ein gutes Vorbild, ein Lehrmeister kann hier viel beitragen, Weiterbildungsangebote aus diesem Bereich können Anregungen liefern, aber jeder und jede muss für sich selbst was draus machen.
Bestatter ohne das Gefühl von Berufung zu diesem Beruf sind vielleicht gute Handwerker, die den Auftrag fehlerfrei abwickeln können, aber mehr auch nicht. Aber auch dafür gibt es ja Kunden, die genau das möchten.
BestatterIn als BegleiterIn in einer schwierigen Zeit mit Gefühlen von Verlust und Trennung, mit der Begegnung mit Tod und Toten ist mehr als Handwerk. Das muss man wollen.
Apropos Sozialisation und Werte. Was hat sich in Ihrem Bestattungshaus geändert, seit Ihre Tochter vor ein paar Jahren mit eingestiegen ist?
Einiges musste sich dadurch ändern, aber es gab wenig Diskussion im Bereich der Werte. Da sind wir uns sehr nahe. Aber alle Organisationsprozesse, die ich bisher mit Hilfe der Datenbank und in meinem Kopf hatte, mussten jetzt für uns beide immer zugänglich sein. Dieser Schritt, Überarbeitung der Datenbank mit Zugang für uns beide sowie Bereitstellung eines Zugangs mit mobilen Endgeräten und die Entwicklung einer transparenten Arbeitsstruktur war doch ein ziemlicher Schritt.
Was sich auch geändert hat ist die Perspektive: Ohne Unternehmensnachfolge hätte ich einfach so weitermachen können. So muss ich mich jetzt öffnen für die Veränderungen durch die junge Generation – welche auch immer die sein mögen. Die Bestattungsbranche ist IMMER im Wandel.
Auch wenn die Digitalisierung in der Bestattungsbranche nur langsam voranschreitet, gibt es bereits ein paar nützliche „digitale Hilfen“. Was sind Ihre Anforderungen an eine moderne Bestattersoftware?
Eine gute Software ist wichtig, denn sie sollte die eigenen Arbeitsabläufe so effizient wie möglich gestalten helfen, dass mehr Zeit für die eigentliche Arbeit – die Begegnung und Beziehung zu den Angehörigen und den Toten – bleibt.
Da es für mich vor 15 Jahren nichts Vernünftiges gab, habe ich mir meine Software auf der Grundlage von Filemaker selbst entwickelt und immer weiter ausgebaut.
Da Bestattung regional so unterschiedlich ist, muss die Software leicht angepasst werden können an die speziellen Bedürfnisse des jeweiligen Kunden. Jedes Bundesland hat andere Formulare und Bestimmungen die implementiert werden müssen, aber nicht jedes Unternehmen braucht das Modul „Trauerdruck“.
Auf jeden Fall braucht es auch statistische Module, die mir zu jedem Zeitpunkt Auskunft geben können, wie der aktuelle Stand ist – offene Forderungen?, welcher der Verstorbenen befindet sich gerade wo?, Wie viele Sterbefälle hatte ich im Vormonat oder im vergangenen Jahr zur selben Zeit? Wie sieht die Altersstruktur bei meinen Sterbefällen aus? Welches Klientel bediene ich? Auf welchen Friedhöfen bin ich oft oder ganz selten? Aber auch diese Fragen lassen sich nicht verallgemeinern.
Jeder Betrieb stellt eigene Fragen, die für ihn von Interesse sind und die mit Hilfe einer Datenbank, über die alle Geschäftsprozesse laufen, beantwortet werden können, falls die richtigen Informationen hier erfasst sind. Insofern ist eine Datenbank aus meiner Sicht Kernstück und Rückgrat der Organisation eines Betriebes.